DIFFUS

5 Dinge, die ihr nur beim Konzert von Coldplay erlebt

Posted in: FeaturesLive
Tagged: Coldplay

1. Stadion-Zirkus auf dem aktuellen Technikstand

Fangen wir bei dem Offensichtlichen an. Wer sehen will, was produktionstechnisch bei einer Stadionshow so geht, der muss zu Rammstein, Helene Fischer – oder eben Coldplay. Chris Martin, Jonny Buckland, Will Champion, Guy Berryman und ihr Team waren zum Beispiel schon 2012 die ersten, die auf die grandiose Idee kamen, das Publikum zum aktiven Teil der Lightshow zu machen. Auch gestern gab es wieder für alle Armbänder aus recycletem Plastik, die in verschiedenen Farben leuchten und von der Lichtregie gesteuert werden können. Zum Beispiel, wenn man schon vor den ersten Akkorden von „Yellow“ weiß, was Sache ist, weil auf einmal das Stadion stockdunkel ist und plötzlich alle Armbänder im Raum – also gestern wohl gut 70.000 – gelb aufleuchten. Ein anderes Mal wurden nur einzelne Armbänder in den oberen Rängen mit einem grellen, weißen Lichtern angesteuert, um einen „Sky Full Of Stars“ zu simulieren. Oder aber – cringe, aber geil – einzelne Gruppen leuchteten Rot auf und formten auf diese Weise ein großes Herz. Diese Technik fand man nach 2012 zum Beispiel auch bei den Touren von Taylor Swift oder bei den K-Pop-Größen, die das Konzept noch ein wenig weiterdachten. Auch in Sachen visueller Dramaturgie kann man von Coldplay-Konzerten lernen. Während einige Songs mit aufwendigen Visuals und Kurzfilm-ähnlichen Animationen bunt in die Nacht gefeuert wurden, verließ man sich bei „The Scientist“ zum Beispiel ganz auf die Kraft der Songs und hatte nur ein paar dezente, in Schwarz-Weiß gehaltene Close-ups auf die Musiker. Das Rahmenprogamm macht derweil Werbung für Nachhaltigkeit und bewussten Energie-Verbrauch: Fans können an Trimm-Dich-Rädern und auf bestimmten Tanzflächen Energie produzieren für die kleinste der drei Teilbühnen – auf der Coldplay an dem Abend allerdings nur einen halbakustischen Song spielten.

Hier wäre eigentlich etwas eingebettet. Du hast aber Embed und Tracking deaktiviert. Jetzt aktivieren.

2. Hate und Verachtung im Vorfeld

Im betagteren Ü40-Musikjournalismus und in weiten Kreisen der Indie- und Rap-Welt ist es immer noch en vogue, Coldplay zu verachten. Und zugegeben: Chris Martins Batik-Fimmel, ihr etwas streberhaftes Gutmenschentum und diverse Songs auf den letzten fünf Alben bieten Angriffsfläche – vor allem für Menschen, die sich gerne an leichten Zielen austoben. Auch mein Freundeskreis macht immer wieder Witze darüber, wenn ich gestehe, dass ich gerne zu Coldplay-Konzerten gehe und man mich da auch schon mal laut singend mit beiden Armen in der Luft vorfindet. Aber, hey! Musikhören war ja auch mal Distinktion – und da es heutzutage keinen mehr schockt, wenn man gleichzeitig Rap, Punk, Industrial und Neo-Klassik hört, muss man sich halt in die andere Richtung vorarbeiten: Im Kolleg:innen- und Freundeskreis kann ich heutzutage am ehesten für angewiderte, verächtliche und geschockte Blicke sorgen, wenn ich sage: Ich höre K-Pop UND ich geh sehr gerne auf ein Coldplay-Konzert. Überspitzt gesagt: Coldplay geil finden ist vielleicht sogar schon wieder Punk.

3. Chris Martin

Den gibt’s wirklich nur abendfüllend auf einem Coldplay-Konzert. Und ich muss an dieser Stelle zugeben: Als ich Coldplay zum ersten Mal live sah, verachtete auch ich diese Band. Oder vielmehr: Ich fand sie langweilig. Sommer 2002 war das. Ich hatte natürlich das Debütalbum und hatte es schon recht oft gehört – aber meistens zum Einschlafen. Coldplay waren 2002 einer der Headliner des Kultfestivals Glastonbury. Ein Booking, das für Entsetzen sorgte. Niemand, außer der Veranstalter Michael Eavis, sah Coldplay auf Headliner-Level. Zu allem Übel hatte Chris auch noch dem NME kurz vorher erzählt, dass er bis ins Teenager-Alter Bettnässer war. Die Presse war also hämisch bis schlecht – und fieserweise wollte ich genau deshalb diesen Gig sehen. Ich dachte mir: Hier wird man eine Band scheitern sehen! Hier wird Pop-Geschichte gemacht! Mit letzterem lag ich richtig – aber nicht so, wie ich gedacht hatte. Die Glastonbury-Macher hatten vermutlich schon das neue Album „A Rush Of Blood To The Head“ gehört, dessen Übersongs dort quasi Live-Premiere feierten. Und sie wussten, dass Chris Martin auf seine manchmal nerdig wirkende Art und Weise eine charismatische Rampensau ist. An dem Glasto-Abend hat er mich auf ewig gewonnen – er spürte die Skepsis und den Hate und machte den Abend mit einem breiten, ansteckenden Grinsen, tollen Ansagen zwischen Charme und Understatement und unbändiger Energie zu seinem. Wie er gestern im Olympiastadion in diesen hässlichen Turnschuhen, mit Neon-Schnürsenkeln an den Armen (!!!) und Batik-Stulpen über die Bühne schritt und rannte, sich dabei mit dieser immer noch klaren und außergewöhnlichen Stimme durch das Coldplay-Oeuvre sang und damit das komplette Stadion von den Sitzen riss – das ist und bleibt erstaunlich für jemanden, den viele für einen britischen Jedermann hielten.

Hier wäre eigentlich etwas eingebettet. Du hast aber Embed und Tracking deaktiviert. Jetzt aktivieren.

4. Die ewige Frage: POP oder cringe?

Machen wir uns doch nix vor: Einen perfekten Abend will ja auch niemand. Das Coldplay-Konzert gestern war wieder einmal ein Tanz auf der Rasierklinge, man war gefangen zwischen großen POP-Momenten und Parts, bei denen man sich dann doch fragte: Ist das gerade noch cool oder schon cringe? Die geschätzte Kollegin vom Musikexpress, Paula Irmschler, sagte gestern ganz richtig: „Ey, selbst wenn du den größten Hater mitnehmen würdest. Du kannst mir nicht erzählen, dass einen ‚Fix You‘ nicht vom Sessel reißen wird.“ Und genau das stimmt: Bei ihren besten Songs, gibt es einfach keine Gegenwehr. Wenn das ganze Stadion leuchtet, zehntausende einen Refrain singen, oder Chris Martin im Duett mit der Sängerin der tollen Vorband London Grammar (zweiter, ebenso toller Vor-Act war Alli Neumann) „Let Somebody Go“ im Duett singt – wie soll man da nicht zum popmusikliebenden Herdentier werden? Aber diese Momente spürt man intensiver, weil Coldplay immer wieder gerne mal in die Tonne greifen: Wenn Chris Martin zum Beispiel ein Duett mit einer Handpuppe (die aus dem „Biutyful“-Video) singt, oder Deutschland in einer Ansage zum Mustervorbild im Umgang mit Geflüchteten hochjazzt. Oder man die ganze Tour als Werbung für Nachhaltigkeit inszeniert, Aktivist*innen auf die Bühne bittet vor dem Konzert – und dann doch eben viel Energie verschwendet und endlos Feuerwerk rausballert. Ach, und trotzdem kann ich ihnen nicht richtig böse sein: Immerhin ballern sie dieses wichtige Thema dermaßen prominent in die Welt, dass man nicht dran vorbeikommt. Bei einem Bühnenmoment bin ich mir allerdings bis jetzt nicht sicher, ob er groß oder seltsam war: Als Coldplay „Something Just Like This“ singen und dabei einen ukrainischen Kinderchor auf die Bühne bitten. Aber die Kinder strahlen, im Publikum sieht man eine Ukraine-Flagge, die Menge applaudiert. Kann also nur groß sein …

5. Songs für die Ewigkeit

Auch wenn die Tour wie ihr letztes Album heißt, füllt „Music Of The Spheres“ natürlich nur einen Teil der Show. Denn Coldplay haben diese Über-Songs – die mitnichten nur auf den ersten zwei Alben sind, wie die alternden Indies so gerne behaupten. Und spätestens hier erübrigt sich jegliche Diskussion: Wer sich „In My Place“, „Clocks“, „Yellow“, „Viva La Vida“, „Fix You“ und selbst „Higher Power“ und „My Universe“ live im Stadion aussetzt, der wird ihnen auf kurz oder lang so erliegen, wie es mir gestern wieder und beim Glastonbury 2002 zum ersten Mal passiert ist. Denn Coldplay-Songs neigen dazu, live noch größer zu werden. Die simplen, aber wirkungsvollen Melodien, die Texte, die man besser nicht in Versform niederschreibt, weil man dann merkt, dass sie gar nicht so romantisch oder deep sind, wie sie aus Chris Martins Kehle klingen und ja, auch der spürbare Zusammenhalt dieser Band, die nun schon über 20 Jahre aktiv ist – all das verbindet sich zu einer Pop-Keule, der man weder ausweichen kann oder will, wenn man sich bei vor eine Coldplay-Bühne stellt. Und das tun alle Jahre wieder erstaunlich viele Menschen: Welche Band schafft es sonst schon, drei Abende hintereinander das Olympiastadion zu füllen? Eben. Deshalb: Wenn ihr noch eine Chance habt, hinzugehen oder für die Zukunft plant – einmal im Leben muss man ein Coldplay-Konzert gesehen haben, wenn man eine Liebe zur Popmusik hat. Meine Meinung.

Das zweite DIFFUS Print-Magazin

jetzt bestellen

Große Titelstory: Brutalismus 3000. Außerdem: Interviews mit Paula Hartmann, Trettmann, Lena, Berq, Team Scheisse und vielen mehr.