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Maryam.fyi über die Revolution im Iran: Ein Land brodelt vor sich hin. Tag 57 – Kolumne

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Ich sitze im Backstage vom „Hafenklang“ in Hamburg. Heute spielen The Toten Crackhuren im Kofferraum und haben mich gebeten, auf der Bühne über die Revolution im Iran ein paar Worte zu sagen und mein Cover von „Baraye“ zu spielen. Die Revolution ist Teil meines Alltags geworden. Uni, Arbeit, Aktivismus. Noch ein Nebenjob. So sieht es hier in Deutschland für mich aus. Am Wochenende gehe ich auf Demos, teile mindestens einen Storypost zum Thema pro Tag. 

Und diejenigen, die wirklich Revolution erleben? 

Im Iran wird weiterhin protestiert. In der Öl-, Aluminium- und Stahlindustrie wird gestreikt. Im Generalstreik befinden sich Lehrer:innen und Einzelhändler:innen. Die Studierenden sitzen in den Mensas trotz Geschlechtertrennung zusammen und trotzen so dem Regime. Ein Land brodelt vor sich hin, immer wieder stehen Polizeigebäude, Basiji-Gebäude, Polizeiautos – das Regime – in Flammen. Währenddessen findet dieses Regime immer wieder Wege, den irrationalen und auf Religion begründeten Terror zu verschärfen und damit sinnlos Leben zu zerstören. So wurde vor einigen Tagen im iranischen Parlament ein Dekret mit 227 von 290 Stimmen angenommen. Das Dekret soll dafür sorgen, dass über mehr als 14.000 Menschen, die bereits festgenommen wurden, ein „göttliches Urteil“ gefällt werden darf – damit Verurteile unkomplizierter und schneller zum Tode verurteilt werden können. 

Unter den Gefährdeten befinden sich großteils Protestteilnehmer:innen. Unschuldige Menschen, die von Krankenwagen eingesammelt und mitgenommen wurden. Frauen, die ihre Kopftücher abgenommen haben. Ärzt:innen, die verletzte Protestierende behandelt haben. 

Musiker werden zum Tode verurteilt

Auch unter den Verurteilten: weitere Musiker, die kritische Texte veröffentlicht haben. So auch der kurdische Rapper Saman Yasin. Wegen „Moharebeh“, „der Krieg gegen Gott“, wurde Saman angeklagt und zum Tode verurteilt. Es wurden bisher laut Menschenrechtsorganisationen bereits rund 1.000 Menschen in Schauprozessen hingerichtet. 

Aber all das hält die Protestierenden nicht auf. Den Mullahs die Turbans vom Kopf zu schlagen ist zum Trend geworden, große Plakate und Mullah-Puppen hängen von Brücken. Das iranische Beachsoccer-Team gewinnt in Dubai beim Interkontinental-Cup das Finale, doch weder jubelt jemand, noch singen die Spieler die Nationalhymne. Schweigen als Protest. Daraufhin wird die Live-Übertragung unterbrochen. Was ich damit sagen möchte: Die Energie und der Wille der Bevölkerung sind noch immer da. Solidarität wird auf der ganzen Welt gezollt, zum Beispiel, als Coldplay bei ihrer Show, die in mehr als 80 Kinos weltweit ausgestrahlt wird, „Baraye“ live spielen, zusammen mit der iranischen Schauspielerin Golshifteh Farahani.

In Deutschland sehen wir die Vorreiter in Fragen Solidarität bei der Sendergruppe ProSiebenSat.1. Im Finale zu „The Voice“ spielt die Iranische Künstlerin Rana Mansour ihre Version von „Baraye“. Mina Richman, Deutsch-Iranerin, veröffentlicht das Lied „Baba Said“, und erklärt ihre Liebe zum Iran, zu ihrer Familie und, was das Kopftuch im Iran mit der Unterdrückung gemein hat. 

Frau, Leben, Freiheit

Gerade erst lese ich die Nachricht, dass die Schauspielerin Taraneh Alidoosti sich ohne Kopftuch auf Instagram gezeigt hat. „JIN, JIYAN, AZADI“ (kurdisch für „Frau, Leben, Freiheit“) auf einem Schild in ihrer Hand. Sie wird das Land nicht verlassen. Wir kennen sie aus „The Salesman“, einem oscarprämierter Film von 2016. 

Die Liste derer, die verschwunden, ermordet, gefoltert sind, wird immer länger. Ermüdend ist es, diese weiter zu verfolgen. Ermüdend, ja, ist das, worauf die Mullahs nur warten. Dass die Welt nicht mehr hinsieht und sie beginnen können, in voller Gänze ihre Opposition abzuschlachten. Vielleicht ist die Ermüdung der Solidarität auch, worauf unser Bundeskanzler Olaf Scholz noch wartet, der sich, wenn, dann nur äußerst zaghaft zum Thema gemeldet hat.  

Ganz aktuell verbreiten sich laut der Hacker Plattform “Anonymous Iran” die Neuigkeiten, dass in der kommenden Woche das Internet komplett runtergefahren werden soll. Eine Taktik, die das Regime gern nutzt, um ungesehen zu töten. 

Damit will ich sagen: JETZT ist die Zeit, in der wir nicht schweigen dürfen. Ich richte meine Bitte daher an alle auf und hinter den Bühnen, dabei ist es egal wie groß diese sind: nutzt euer Wort. Seht mit uns zusammen hin! Seid mit uns die Schallverstärker für die Verschleppten, bevor sie vollends verstummen. 

Was geht in Deutschland?

Am Wochenende finden Demos überall in Deutschland statt, die genauen Daten findet ihr hier Iran Protests Germany.

Morgen Abend findet in den Kant Garagen in Berlin eine Ausstellung der iranischen Galeristin Anhalt Sadighi statt, die vor zwei Wochen schon einmal bei der Neuen Nationalgalerie iranische Poesie rezitiert hat.. Dort werden unter anderem die Menschenrechtsaktivistin Duzen Tekkal und der Exil-iranische Autor Behzad Karim Khani zu Gast sein und sprechen. Geht hin, wenn ihr da seid, es gibt sogar schickes Revolutionsmerch von lala berlin.

Für Frau, Leben, Freiheit!

Wer ich bin

Maryam. Iranerin und Deutsche. Künstlerin (MARYAM.fyi). Beende gerade mein Medizinstudium. Kleine und große Schwester. Was mich von meinen Schwestern unterscheidet: Freiheit. Geboren und aufgewachsen in Deutschland, nahm ich diese immer als selbstverständlich an. Vom Iran träume ich mein Leben lang. Ich hatte das Glück, diesen Teil meiner Wurzeln kennenzulernen. Seit meinem 10. Lebensjahr war ich einige Male im Iran, gemeinsam mit meinen Eltern, Geschwistern, Freund:innen. Erst im Sommer habe ich meinen iranischen Pass verlängern wollen. In meiner Kolumne spreche ich viel über Heimat und über Familie. Also seid mir nicht böse, wenn ich emotional bin. Bitte. Danke.

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