Maryam.fyi über die Revolution im Iran: Winterdepris und Mullahs – Zeit, dass ihr geht
30. Januar 2023. Ein verregneter, grauer, Hamburgmorgen. Die Zeit verschwimmt. Es ist 8 Uhr morgens, als ich durch den Regen laufe und es ist hell. Die Tage werden wieder länger, meine Winterdepression verzieht sich hoffentlich bald.
Fast ein halbes Jahr ist vergangen, seitdem Jhina Amini umgebracht wurde. Hier in Deutschland im Gesprächskontext höre ich immer wieder raus: „Wie konnte die Revolution so plötzlich einbrechen? Das hat angefangen mit dem Mord an dem Mädchen, das ihr Kopftuch nicht richtig getragen hat.” Ja, mit dem Mord an der Kurdin Jhina Amini wurden die Menschen haltlos, mutig, wütend, laut. Aber bereits im Juli letzten Jahres fielen die Kopftücher auf den Straßen im Iran. Die Widerstandsbewegung war lange, bevor internationale Aufmerksamkeit darauf gefallen ist aktiv und laut. Proteste liefen bereits überall im Land, getrieben durch die allgemeine Unzufriedenheit und Armut. Und auch zu diesem Zeitpunkt hieß es bereits, dass ein Umsturz des Regimes mit demokratischer Alternative der explizite Wunsch des Volkes sei. Ein bisschen klingt das dann für mich so, wie wenn jemand vom Feuilleton sagt, Nina Chuba hätte mit Wildberry Lillet von 0 auf 100 gestartet. Das Ganze Brodeln zuvor haben die bloß nicht mitbekommen.
Die Revolution hält an
Na gut, meine schlechten Vergleiche beiseite: Ich wollte nur mal kurz unterstreichen, dass die Revolution keine überstürzte, nicht ernstzunehmende Welle des Aufruhrs ist. Nein. Die Revolution hält an, bis sie vorüber ist, bis eine vom Volk getragene Alternative entstehen kann und das Terrorregime samt der Möder-Mullahs geflohen ist.
Die Gewerkschaft der Arbeitenden aus der Öl- und Minenindustrie streikt und hat letzte Woche ein Statement veröffentlicht: Sie werden es, wie bereits zuvor einmal angekündigt, nicht hinnehmen, wenn noch Entscheidungen von einem gewaltsamen Regime getroffen werden.
Währenddessen kursieren weniger Videos von Protesten. Doch zwischendurch finde ich sie wieder. Die grauenvollen Aufnahmen, auf denen Basijis wahllos Frauen auf der Strasse niederknüppeln oder ins Auto zerren. Die Angst, mit denen die Menschen das Haus verlassen, ist berechtigt. Umso mutiger sind sie alle, trotz der Armut, trotz der Gewalt immer wieder raus und protestieren zu gehen – oder wahrscheinlich genau deswegen.
Aufmerksamkeit rettet Leben
Erinnert ihr euch an die Erwähnung von Angelina Jolies Post in der letzten Ausgabe? Sie hat das Video von Mohammad Ghobadloos Mutter geteilt, wie diese nachts vor dem Rajai-Shar Gefängnis um das Leben ihres Sohnes fleht. Mohammads Hinrichtung wurde aufgeschoben, sein Prozess wird noch einmal aufgenommen.
Ich bin sauer
Jetzt bringe ich noch das Unumgängliche hinter mich: Sprechen wir über die Geschehnisse im Europaparlament. Trotz einer mehrheitlichen Abstimmung darüber, dass die Listung der IRGC (Revolutionsgarden) auf der Terrorliste im Parlament beschlossen werden solle, wurde diese Listung abgelehnt
Protokollen zufolge sagte der EU-Außenminister Josep Borrell am Abend zuvor noch im Gespräch mit dem iranischen Minister, dass das Bestreben zur Listung der IRGC auf der EU-Terrorliste nur „Theater” sei und so nicht stattfinden würde. Borrell hatte an keiner der relevanten Sitzungen bezüglich des Iran zuvor teilgenommen.
Ich bin sauer. Sauer auf diese Willkür in Verbindung mit Macht und trotz allem den Unwillen, Veränderung zu unterstützen. Die IRGC sind so noch immer legitimiert und finanziell abgesichert, solange sie keinen vollständigen internationalen Boykott und ein Urteil erfahren.
Der Blick auf den Screen: grauenhaft
Gestern Mittag lese ich dann beunruhigende Nachrichten auf Twitter: Drohnen haben verschiedene Militäreinrichtungen im Iran getroffen. Noch dazu hat sich ein Erdbeben im Nordwesten des Landes in der Stadt Khoy ereignet, bei dem Hunderte verletzt wurden und einige starben. Diese beiden Nachrichten beim selben Blick auf den Screen: Ein grauenvoller Moment. Woher die Drohnen kamen, ist nicht ganz geklärt. Unterschiedliche Quellen sagen bisher verschiedene Dinge. Wir werden es bestimmt im Laufe des Tages erfahren.
Was in diesem Moment dann aber erneut klar wiederholt werden muss: Die Menschen im Iran brauchen keine militärische Unterstützung von außen. Sie brauchen die einstimmige Legitimation ihrer Aufstände, damit sie nicht weiterhin umsonst und mit aller Willkür verschleppt und ermordet werden können. Die Angst vor einem internationalen Konflikt mit dem Iran, vor einem Krieg, flammt in uns Diaspora-Iraner:innen seit jeher immer wieder auf, sie ist ein bekannter Gast, tief in der Magengrube. Das sage ich und schaue aus meinem Fenster raus in den Regen. Wir hoffen also wieder weiter.
Was macht uns eigentlich Hoffnung?
Falls ihr euch fragt, ob es mir Spaß macht, diese Schreckensnachrichten hier aufzulisten und zusammenzufassen: Nein, das macht es mir nicht. Manchmal verliere ich den Überblick und weiss nicht so recht zu priorisieren. Deshalb ist der nächste Abschnitt immer der Wichtigste. Was macht uns eigentlich Hoffnung?
Die Schauspielerin Pegah Feridony hält zur Eröffnung des 44. Filmfestivals Max Ophüls Preis eine Rede und bringt darin so vieles auf den Punkt. Ich empfehle sie euch hier.
Darin sagt sie unter anderem: „Wir müssen Patenschaften übernehmen”, Künstler:innen und Kulturschaffende müssen ihre Communities nutzen. Dieser Gedanke geht schon lange in mir hin und her und deshalb haben wir kürzlich einen neuen Account – vorerst nur auf Instagram – geschaffen, auf dem wir (meine Schwester und ich) von nun an regelmäßig Personen aus der Kunst- und Kulturszene mit ihren Patenschaften vorstellen werden, um einen Überblick zu schaffen. Schaust gern mal bei @artistsforartists_iran vorbei und verlinkt beispielsweise eure Lieblingskünstler:innen, wenn ihr sie auch dazu motivieren wollt, Patenschaften zu übernehmen.
Und zum Schluss wollte ich noch folgendes mit euch teilen. Manchmal denkt man sich nämlich: Ist das jetzt Corporate-Washing oder ist es echte Intention? Der Designer Jean-Paul Gaultier hat schon im Oktober auf seinem Instagram Account den Hashtag #FRAULEBENFREIHEIT geteilt. Jetzt bei der Fashionweek in Paris hat er noch einen draufgesetzt. (Ab 3:00 min hört ihr den Text der Protesthymne „Baraye” auf Englisch übersetzt)
Gestern Abend im Weltspiegel der ARD hat eine Frau in Teheran auf der Strasse gesagt: „Natürlich haben wir Angst. Jeden Tag. Aber es gibt die ganze Zeit noch Hoffnung auf Freiheit. Und was ist das Leben schon wert, außer Freiheit?”
Die nächste europaweite Großdemo findet am 11.Februar in Paris statt und Busse aus ganz Europa werden organisiert. Ihr findet alle Informationen hier.