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Pop trifft Porno: Was die Musikwelt von Erika Lust lernen könnte

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Stereotype Geschlechterrollen, Objektifizierung von Frauen und eine riesige Diskrepanz darin, wer das Sagen hat und wohin das Geld fließt. So wenig Gemeinsamkeiten haben die Pornoindustrie und das Musikbusiness eigentlich gar nicht. Vor allem in explizit sexuellen Musikvideos kommen überholte Strukturen vermehrt zum Ausdruck und werden so reproduziert. Eine Frau, die mit ihrer Arbeit einen Strukturwandel herbeiführen will, ist Pornoproduzentin Erika Lust. Sie weiß, was die beiden Branchen noch so alles zu lernen haben und nennt sie treffend „Macho-Industrien“. Aber vor allem weiß Erika, dass es auch anders gehen kann.

2009 oder 2023?

Eine Menge leicht bekleideter Frauen schmiegt sich erregt aneinander. Inmitten von ihnen ein großer Mann, der ihre Bewegungen genau betrachtet, die Frauen schließlich als „Bitch“ bezeichnet und ihnen befiehlt: „Bounce that ass“. Während sie sich erotisch zur Musik bewegen, lacht er in die Kamera und ist dabei nicht nur vollkommen bekleidet, sondern auch mit reichlich Schmuck behangen. Obwohl ich das Gefühl habe in einem zu sein, ist diese keine Szene aus einem Sexfilm, sondern stammt aus dem Musikvideo zu „Disco Inferno“ von Rapper 50 Cent. Obwohl es bereits 13 Jahre her ist, dass dieses Filmmaterial aufgenommen wurde, könnten die Bilder ebenso aus einem Video des vergangen Release-Friday stammen. Denn allzu viel hat sich in dieser Hinsicht noch nicht geändert.

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Vor allem im Hip-Hop werden klassische Geschlechterrollen noch immer stark durch Bilder von Sexualität reproduziert. Aber warum ist das noch immer so und vor allem: Geht das nicht besser? „Die Musikindustrie ist eine Macho-Industrie in derselben Art, wie die Pornoindustrie eine Macho-Industrie ist“, weiß Pornoproduzentin Erika Lust, die ich zur Filmpremiere ihres neuen Projekts „The Wedding“ in ihrer Wahlheimat Barcelona getroffen habe. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Pornos zu revolutionieren und durch eine feministische Linse zu erzählen. Im Gegensatz zu konventionellen Produktionen stehen bei Erika Lust Diversität und vor allem ein Mitspracherecht aller Personen am Set an oberster Stelle. Ich finde, da steckt vieles drin, was der Musikindustrie noch fehlt. Die Branche könnte also einiges von Erika Lust lernen – was natürlich für den größten Teil der Porno-Industrie ebenso gilt. Dass ich nach Barcelona reisen konnte, liegt übrigens am Engagement von Erikas Team selbst. Ihre PR-Kolleg:innen schreiben seit längerem gezielt junge Musikmedien an. Offenbar wurden hier schon wiederholt Überschneidungen mit der eigenen Zielgruppe festgestellt – oder man möchte die Indie-Fans eben mit Indie-Porno versorgen, der die gleichen Werte teilt.

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Die Welt von Erika Lust

Die 46-jährige Filmproduzentin ist bereits seit 2003 im Geschäft. Seit 2004 leitet sie ihre Produktionsfirma „Lust Films“, hat eine Aufklärungsplattform namens „The Porn Conversation“ gegründet und setzt sich für einen Wandel in der Branche ein. Statt besitzergreifende und übergriffige Szenen gibt es bei ihr einen Shift, weg vom „Male Gaze“, also der Sicht des Mannes, der den Körper einer Frau zu einem „Objekt der Begierde“ macht. 

Es ist noch immer der Male Gaze, der sich durch alles zieht. Frauen werden zu einem Werkzeug gemacht, um anderen zu gefallen, sie werden zu schönen Objekten reduziert. Ihre Rolle ist es dabei, das Publikum anzumachen. Männer hingegen sind da, um ihr Recht geltend zu machen und den Boss, ja die Hauptfigur in der Geschichte zu spielen. Es ist dasselbe.“ Dasselbe in der Porno- wie in der Musikindustrie, meint Erika. Denn in beiden Bereichen wird cis-männlichen Personen noch immer die Hauptrolle erteilt. Wie zum Beispiel in diesem Video: 

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Rap durch den Male Gaze

In Flers Musikvideo zu „Immer noch Aggro“ gibt es zwar keine expliziten Sexszenen, es verdeutlicht jedoch ein weiteres Mal, was mit einer „Objektifizierung der Frau“ durch ihre Sexualität gemeint ist. Die leicht bekleideten Frauen in dem Video haben keine weitere Rolle, als neben den Autos zu posieren und quasi das sexy Accessoire der Rapper darin zu sein.  Dazu kommt noch die Verbindung mit Gewalt durch Waffen und Zeilen wie „Squeeze die Bitch bis sie choked“ und schon ist das Rezept zum idealen Negativbeispiel fertig. Beim Schauen verspüre ich weder Freude, noch irgendeinen Sinn von Erotik und möchte am liebsten gleich wieder abschalten. Male Gaze at it’s finest plus Einladung zum gewaltsamen Übergriff. Denn was bei sexualisierten Videos oft falsch läuft, ist nicht das Sexuelle an sich, sondern die Werte, die darin transportiert werden. So sieht das auch Erika Lust mit den Pornofilmen: „Ich habe überhaupt keine Scheu vor dem sexuellen Teil des Inhalts. Für mich kann Pornografie schmutzig sein, naughty, juicy sein, es kann das alles sein! Ich denke, das ist großartig. Aber was ich will, ist, dass die Werte richtig sind. Ich möchte mich sicher fühlen bei dem, was ich anschaue“.

Safety First

Das Stichwort „Sicherheit“ ist dabei die Essenz – vor und hinter der Kamera. Nur, wenn sich alle Beteiligten sicher fühlen, kann artikuliert werden, wo die individuellen Grenzen liegen. Doch wie generiert man Sicherheit in einem so sensiblen Setting? Am besten dann noch so, dass vermeintlich einvernehmliche Szenen nicht durch ein aufgesetztes Lächeln als solche verkauft werden, obwohl sie diesem Anspruch gar nicht gerecht werden. Oder bin ich die einzige, der das Video zu Robin Thicks „Blurred Lines“ irgendwie ganz unwohl in Erinnerung geblieben ist? Wenn die Frauen in dem Video immer nackter werden, während die Männer sich das zunutze machen und natürlich mit Bestimmtheit sagen können: „I know you want it“

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Immerhin wurde ein paar Jahre nach der Veröffentlichung von „Blurred Lines“ dann doch mehr oder weniger eingesehen, dass eine solche Darstellung von Frauen gar nicht klar geht. Produzent Pharrell Williams sagte auch, es hätte ihm viel über Sexismus beigebracht, was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstanden hätte. Trotzdem existiert das Video und ist bei weitem nicht das einzige, das so unreflektiert produziert wurde und bei dem die Sicherheit aller Beteiligten unbeachtet blieb. 

Lösungsansätze

Auch diese „Sicherheitslücke“ teilt sich die Musikbranche mit der Pornoindustrie. Erika Lust versucht, sie durch ganz bestimmte Strategien und Konzepte zu füllen: „Unsere Arbeit ist wirklich kollaborativ. Die Personen, die in den Filmen mitspielen, sind dabei auch Teil des größeren Prozesses. Sie werden nach ihrem Feedback gefragt und haben das Recht, ihre Meinung zu sagen. Ich tue dabei nicht so, als wäre ich an der Spitze irgendeines Berges. Ich lenke nur das Schiff, aber alle sagen, wohin es gehen soll.“ Die Produzentin und Regisseurin arbeitet mit Intimitäts-Koordinator:innen und Talent-Manager:innen an ihren Sets, die sich explizit um die Darsteller:innen kümmern. So sorgt das Team dafür, dass die Aufnahme-Erfahrung zu einem Safe Space wird. „Einige der Filme, die wir produzieren, werden intimer. Man spürt, wie sich die Darsteller:innen gegenseitig absprechen und miteinander kommunizieren. Dadurch können sie dem Publikum zeigen, dass sie sich wohlfühlen. Es ist wichtig, solche Gespräche zu führen.”

Die Sache mit dem Female Empowerment

Aber selbst, wenn solche Gespräche geführt werden: Wichtig ist auch das, was am Ende am Bildschirm landet. Ich persönlich habe natürlich keine Ahnung wie 50 Cent, Fler oder Robin Thicke ihre Videos gedreht haben und was dabei am Set passiert ist. Sicher weiß ich nur, dass es beim Ansehen Unbehagen und auch etwas Wut in mir auslöst. Und das liegt mit Sicherheit nicht an der darin vorkommenden Freizügigkeit.

Denn da gibt es ja mittlerweile zum Glück schon einige andere Personen in der Musikszene, die versuchen, das Ruder herumzureißen und bei deren empowernden Anblick ich mich pudelwohl fühle. Man denke an die Godmother of Female Rap Nicki Minaj, Cardi B oder nicht zuletzt Ice Spice. In der deutschen Musiklandschaft sind es Künstlerinnen wie Shirin David oder Badmómzjay, die ihren Körper so präsentieren, wie sie es wollen – ohne die Stimme eines Mannes im Hintergrund. Diese „Ent-Objektifizierung“ der Frau, besser beschrieben als „Female Gaze“, bekommt jedoch trotz eines starken feministischen Zugangs Hate von vielen Seiten. Davon betroffen war auch das Video zu „WAP“ von Cardi B und Megan Thee Stallion aus dem Jahr 2020, an dem viele Stimmen eine Zensur forderten. 

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Ausbrechen aus dem Status Quo

Obwohl die Frauen hier ja endlich die Hauptrolle in ihrer eigenen Sexualität übernehmen. Das ist doch eigentlich ein richtig guter, weiter Schritt nach vorne. Irgendwie unlogisch, oder? „Natürlich bekommt man als Frau viel Hass, wenn man für sich einsteht. Die Leute denken, es sei in Ordnung, über uns zu reden, darüber zu reden, was wir anziehen, was wir sagen. Alles, was wir tun, ist irgendwie falsch. Wenn wir zu sexuell freizügig sind, werden wir als Schlampe bezeichnet“, sagt Erika Lust darüber. Ich fühle mich bei diesen Worten mehr als verstanden. Dabei läuft es auf ein Muster hinaus: Das Objekt-Sein der Frau ist der aktuelle Normzustand und alles, was davon abweicht, ist praktisch nicht akzeptabel. Erika ist der Überzeugung, dass es noch mehr solcher Frauen braucht, um einen wirklichen Umschwung zu bewirken. Sie setzt sich deshalb stark dafür ein, dass diese nicht nur Performance-Rollen bekommen, sondern in jedem Teil des Teams vorhanden sind. Von Manager:innen über Kameraleute bis zu Tontechniker:innen – Erikas Team besteht vorwiegend aus Menschen, die nicht in die Kategorie „cis-hertero-white-male“ fallen. 

Wie man Konsens ohne Worte möglich macht

Wenn Dialog und Konversation so wichtig dafür sind, eine richtige Message rüberzubringen, scheint das in Musikvideos erstmal recht schwierig, wenn es auf dem Bildschirm meist keine wörtlichen Interaktionen gibt. Aber eigentlich ist es doch so, dass Bilder wirklich mehr sagen als alle Worte. Das verstehen Erika und ihr Team genauso: „Wir haben viele Szenen, in denen es keinen verbalen Dialog gibt. Zum Beispiel gibt es in dem neuen Film einen Teil, in dem sich der Trauzeuge und der Bräutigam näherkommen, und der Bräutigam sich nicht sicher ist, ob er es tun soll. Aber dann gibt es einen Schnitt, in dem er die Hand des Trauzeugen nimmt und ihn zu sich zieht. Es gibt also viele Möglichkeiten, Einverständnis ohne Dialog zu zeigen. Man muss nur über die Möglichkeiten nachdenken und wie man das zeigen kann, was man zeigen möchte.“ 

Aber nicht nur ein Blick in Erikas Filme gibt ein gutes Beispiel für wortlosen Konsens. Zum Glück gibt es auch einige Videos in der Musik, die Einvernehmen verstanden haben und ein gutes Gefühl von Intimität vermitteln. Der Berliner Musiker Lie Ning veröffentlichte vor zirka einem halben Jahr seine Single „Offline“, in der verschiedene Menschen sinnliche Berührungen teilen. Das ganze dabei ohne Gewalt oder Übergriffigkeit. Es zeigt, wie eindeutige Sicherheit und unmissverständliche Körpersprache zwischen Menschen aussehen kann, die einander einvernehmlich berühren. Die ehrlich lachenden Gesichter und Gestern übernehmen hier den Part des Dialogs, den ich hier problemlos ohne Worte verstehen kann. Ein klassisches Beispiel dafür, dass es eben keinen Male Gaze braucht, um eine erotische Szene umzusetzen. Mit der Wirkung, dass die Bilder auch nach dem Anschauen kein Gefühl von Bedrohung oder Objektifizierung hinterlassen. 

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Und auch Flume und Disclosure zeigen, wie eine „neutralere“ Perspektive auf Erotik gesetzt werden kann. Im Video zu „You & Me“ wird das ganz einfach mit aktiven Bewegungen und Initiative beider Darsteller:innen inszeniert. Es wird wild, aber einvernehmlich geknutscht – ohne Worte und ohne flauen Magen beim Zusehen. 

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Egal wie, aber selbstbestimmt

Was Videos wie das zu „Offline“ und Erika Lust Filme gemeinsam haben, ist schön einfach zusammenzufassen: Es geht um Selbstbestimmtheit. Eine Selbstbestimmtheit, die bei „WAP“ zum Empowerment einlädt, bei „Immer noch Aggro“ hingegen definitiv fehlt.

Eine Selbstbestimmtheit, mit der Videos juicy sein und Erotik feiern dürfen und sollen, dabei aber ein für alle Mal die Übergriffigkeit und Hierarchien darin abschaffen. Kein Rapper soll einer Frau befehlen „Bounce that ass“ oder sie „Bitch“ nennen und ich will mir das auch nicht anschauen müssen. Vielleicht, oder ziemlich sicher sogar, sollte sich so manch ein:e Rapper:in oder Videoproduzent:in ein paar Erika Lust-Filme als Inspiration anschauen und dabei für sich selbst die Schlüsse daraus ziehen. Damit so ein Video wie „Disco Inferno“ nicht mehr entsteht. Und damit die Rap- und Pop-Männer vielleicht endlich einsehen, dass dieses Bild von überzeichneter Männlichkeit heute bei den meisten eben nicht Bewunderung auslöst, sondern eher Mitleid und einen Impuls zum Wegschalten. Wer nur einmal gesehen hat, wie ein männlicher Darsteller in Erikas Filmen in einer klaren Konsens-Situation – wegen meiner auch harten – Sex hat, bei dem alle Beteiligten ihren Spaß haben, weiß nämlich, dass es auch anders geht.