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So war Rock am Ring 2022 (für uns)

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Es ist ja immer fürchterlich anmaßend, Festivalnachberichte mit den Worten „So war …“ zu beginnen. Als könnte man in einem Text alle Facetten eines Open-airs einfangen, auf dem 90.000 Menschen plus Crew und Personal herumwuseln und meistens drei Konzerte gleichzeitig laufen. Deshalb gibt’s ihr unseren kleinen Round-up – als Überbrückung für unser „Race am Ring“, das wir euch vermutlich ab Ende dieser Woche zeigen können. Wir haben nämlich Bands wie Drangsal und Mia Morgan, die Broilers, die Sportfreunde Stiller, die 102 Boyz, Donots, Beatsteaks und Kafvka zu einem Rennen mit der sehr bockigen Ape getriezt und Kollegin Pia hat sie dabei per Funk interviewt. Klingt lustig? War es auch, wie man hier sieht:

Viel Gutes, aber auch mal Grütze

Musikalisch war am Ring viel Gutes zu sehen – aber auch mal Grütze. Müssen wir hier einfach mal so feststellen. Aber das liegt ja auch in der Natur der Sache bei riesigen Festivals wie diesem, die viele Leute pleasen müssen. Mit so einer gewissen, oft bärtigen Ausprägung von einfallslosem Breitbein-Strunzrock mit Emo-Dramatik, wie er am Sonntag auf den meisten Bühnen regierte, können wir halt nicht mehr so viel anfangen. Dafür gab es einige alte Helden, die tatsächlich noch Feuer haben: Green Day zum Beispiel, die manchmal zwar auch wie eine Punk-Parodie wirkten, wenn sie Publikums-Interaktionen simulierten, aber eben Kracher wie „American Idiot“ im Programm haben – oder „Basket Case“, der im Grunde ja ein sehr wichtiger, healthy und wholesome getexteter Song über die Wichtigkeit von mentaler Gesundheit ist. War uns vorher noch gar nicht so aufgefallen.

Muse waren ebenfalls beeindruckend: Sie spielten unter brennenden Bandlogos, einem diabolischen sieben Meter Maskenkopf und mit Anzügen, die aussahen, als wären sie bei der „Tron“-Produktion im Einsatz gewesen. Korn wiederum waren für viele ein ziemlicher Abriss und hatte tatsächlich noch einiges an Wucht und Energie in Petto. Auch die Beatsteaks zeigten sich in guter Form, während Sammy und seine Broilers nicht nur spürbaren Bock hatten, sondern auch zeigten, dass sie Hauptbühnen-Headliner-Material sind. Was man von Volbeat nicht behaupten konnte. Die wurden am letzten Abend allerdings eine Bühne weiter von Billy Talent an die Wand gespielt – was zum Ende für ein paar brenzlige Probleme in der Crowd sorgte: Es drückten so viele Menschen nach, dass eine Zugabe ausfallen musste, weil sonst Schlimmeres hätte passieren können. Am Anfang spielten als Hauptbühnen-Opener plötzlich auf einmal die Donots mit den Hosen einen Song von Die Ärzte. Hätte man auch nicht gedacht, dass man diesen Satz mal schreiben kann. Drangsal mit Gaststar Mia Morgan machten dann Rock am Ring zu ihrer ganz eigenen Party inklusive Wall of Death und Crowdsurfing.

Mehr Experimente und weniger Eier bitte!

Wie in den Jahren vor 2019 auch bekam das Festival-Line-up in seiner Gänze medial mal wieder einige Tritte in die Eier. Zum Beispiel hier von Jakob Biazza in der Süddeutschen Zeitung. Wichtiger Text, der zu Recht den strukturellen Sexismus der Branche an dieser Würstchenparade fest macht. Trotzdem muss man irgendwie sagen: Rock am Ring ist ein (zu) leichtes Ziel. An dem kann man sich perfekt abarbeiten, weil er Aufmerksamkeit bringt und abbildet, was schief läuft – aber dann muss man ähnlich vehement an allen anderen Fronten Veränderung fordern und Künstlerinnen oder nicht-binäre Acts fördern. Was – wie man schon an der Männerquote der Acts, mit denen der gute Herr Biazza sonst so talkt für die SZ – auch nicht so ganz der Fall ist. Von den letzten 18 Texten, die er schrieb, handelten 12 von Männern. Da ist also auch noch Luft. Und es könnte helfen, wenn die Autoren solcher Texte mal aus dem Pressezentrum und von der Tribüne runtergehen und sich im Publikum umschauen oder noch besser: umhören. Da sieht man nämlich viele Menschen, die nicht auf dem Stand der Diskussion sind und vielleicht auch gar nicht sein wollen. Denen gefällt das Line-up eben eher nicht zu 100 Prozent, weil Rammstein mal wieder nicht spielen – und nicht, weil die Rap- und Rock-Dudes überproportional vertreten sind. Das ist gar nicht herablassend gemeint – hier geht es, und da hat der SZ-Autor Recht, eben viel um Sozialisation. Beim Rock am Ring in diesem Jahr dürfte ein Großteil des Line-ups übrigens noch von den vorherigen Veranstaltern gebucht worden sein. Was eigentlich ein offenes Geheimnis ist, aber natürlich die starke Pointe kaputt gemacht hätte, dass die neue Agentur nach einem Statement, dass man da besser werden wolle, „nur“ 13 weitere Frauen gebucht hätte. Fairplay ist das nicht gerade. Fair ist eher: Wir schauen mal, was im nächsten Jahr so kommt.

Publikumserziehung könnte Spaß machen

Eines der musikalischen Highlights für uns war übrigens eine Band, die erst später dazu kam: Die Punk-Teenagerinnen von The Linda Lindas, die dieses sonst oft so bierbäuchige und ergraute Genre mit neuer Energie auf die Bühne bringen. Und dann war da noch der Hyperpop-Irrsinn von Laura Les und Brady aka 100 gecs, die mit viel Leidenschaft und Witz sämtliche Genregrenzen sprengten und Punk-Spirit, Pop-Liebe und Laptop-Quälerei zusammenbringen. Auch wenn beide auf der kleinsten der drei Bühnen spielten, sah man hier eine für den RaR sehr junge Crowd, die feierte bis der Arzt kommt und eine wichtige Rolle in der Zukunft des Festivals spielen wird. Die Sache mit der Pimmeligkeit der Festivals wird nämlich auch eine direkte Konfrontation mit einem nicht gerade kleinen Teil des Publikums sein: Viele ältere ROCK-Rock-Fans wollen halt nur ihre Helden und die stammen noch aus der Zeit, in der Hodensäcke noch deutlicher Vorfahrt hatten als dieser Tage. Hier muss man für musikalische Überraschungen sorgen und all die tollen Acts finden, die sexistische Skepsis mit einem guten Gig an die Wand spielen. Und ja, man darf das ruhig „Publikumserziehung“ nennen – und das nicht nur auf den Bühnen, sondern auch auf den Campingplätzen einfordern. Wer nämlich immer noch, wie wir es gesehen haben, mit Mitte dreißig mit einem Megafon an der Kreuzung zum Supermarkt brüllt „Hey, du hast ja schöne Titten. Zeig die doch mal, dann bekommst du einen Jägermeister!“, der hat gerne einen Tritt in die Eier verdient – oder zumindest eine Verwarnung, dass er beim nächsten Mal, wenn er so was sagt, das Festival verlassen darf. Schönste Errungenschaft der „Cock am Ring“-Diskussion war neben dem Gegenfestival von Carolin Kebekus übrigens dieser wundervolle Benefiz-Sampler, für den 24-Flinta-Acts Songs vom diesjährigen Line-up gecovert haben. Alle Infos und ein Interview der Macherinnen findet ihr hier.

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Back in the crowd

Wir müssen zugeben: Wir waren ein wenig skeptisch, wie wir uns fühlen werden inmitten so vieler Menschen. Und mussten dann feststellen: Die Euphorie bügelt jegliche Sorge über. Obwohl wir wissen, dass die Pandemie noch schwelt und die nächsten Tage nervös auf kleine rote Linien auf kleinen Plastikscheiben starren werden, hatten wir uns ruckzuck dran gewöhnt, durch die Crowd zu streifen, wildfremde Menschen kennenzulernen und gemeinsam Lieder in die Nacht zu schmettern, ohne dabei an Aerosole zu denken. Gott, was haben wir das vermisst! Ebenso wie das gemeinsame crazy Arbeiten, Interviewen, Mit-Kolleg:innen-und-Bands abhängen und vor allem das Musik-Feiern nach Feierabend.

Deshalb, ist unser Fazit vielleicht dieses: Gibt viel zu tun für das nächste Jahr – Technik- und Campingplatz-Hausaufgaben können die Veranstalter:innen aus den Online-Kommentaren rauslesen – , aber irgendwie dachten wir am Ende: Rock am Ring war oft ziemlich mitreißend und ist in all seiner lauten und fordernden Erscheinung doch nun mal eine Instanz in der heimischen Festivallandschaft. Aber eine, die man ein wenig Richtung Gegenwart schubsen müsste. Was ja nächstes Jahr klappen kann.

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