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Wie Spotify, Apple Music und Co. den Mainstream, die Musik und unser Hörverhalten verändern

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Heutzutage hat jeder die Freiheit, Musik zu produzieren und diese im Handumdrehen Streaming-Plattformen wie Spotify oder Apple Music verfügbar zu machen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass das Angebot an zugänglicher Musik rasant ansteigt. Dieser Überfluss führt dazu, dass einstige Nischengenres starken Zulauf bekommen und immer weitere Mikrogenres hervorbringen. Dazu hat Musikjournalist und Popkritiker Simon Reynolds im vergangenen Jahr in seinem Artikel „Streaming has killed the mainstream“ erklärt, dass diese Veränderung nicht bedeute, dass der Musikgeschmack und die Nachfrage der KonsumentInnen sich verändere. Vielmehr spreche alles dafür, dass sich die Bezeichnung und die zugehörige Ästhetik von Genres spezifiziert. So kann das, was früher unter dem Sammelbegriff „Indie“ abgestempelt wurde, heute ebenso „Bedroom Pop“ wie „Vaporwave“ sein. Der Mainstream schwindet, bedingt durch den Überfluss an Musikauswahl, der durch Streaming-Plattformen entsteht und begünstigt wird. Dieser Mainstream meint jene Musik und KünstlerInnen, von denen die meisten zumindest schon einmal gehört haben, unabhängig dessen, ob sie diese Musik bewusst konsumieren oder nicht. Laut Reynolds gebe es immer weniger KünstlerInnen, die sich im allgemeinen Bewusstsein über Genregrenzen und Hörgemeinschaften hinweg etablieren können. Dafür gebe es immer mehr „Kult-Künstler“ innerhalb einzelner Genres, wie zum Beispiel Clairo im Bedroom Pop. Clairo hat über sieben Millionen monatliche HörerInnen auf Spotify und ihr meist gestreamter Song zählt über 140 Millionen Plays. Ein Garant dafür, dass sie als Persönlichkeit außerhalb ihrer Nische erkannt und wahrgenommen wird, ist das aber nicht.

Clairo – Pretty Girl

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Auch Playlists spielen beim Wandel des Mainstreams eine Rolle. Playlists werden als Möglichkeit genutzt, um mit Songs verschiedener KünstlerInnen ein bestimmtes Gefühl einzufangen oder gar den Soundtrack einer ganzen Bewegung zu liefern (siehe „Modus Mio“ oder „Wilde Herzen“ Playlist auf Spotify). Aus welchen KünstlerInnen oder Songs diese Playlists genau bestehen ist zweitrangig. Die Songs, die in den hauseigenen Playlists der Streaming-Dienste landen, werden teils abermillionen mal gestreamed, und doch existiert der Kult-Status der dort auftauchenden KünstlerInnen meist nur innerhalb dieser Playlist-Sphäre. Die deutsche Untergrund Hip Hop-Szene ist ein Paradebeispiel hierfür. Die Berliner Rapper Kasimir1441 und Yin Kalle schlagen im deutschen Rap-Untergrund hohe Wellen und sind in Spotify-Playlists wie „Deutschrap Untergrund“ vertreten. Außerhalb dieser Playlist Sphäre bauen sich beide jedoch erst ihre Bekanntheit auf – trotz mehrerer hunderttausend monatlicher HörerInnen.

Kasimir – KK

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Musik wird durch Streaming auf einer immer individuelleren Ebene konsumiert. Ein kollektives Hörerlebnis wie im Radio besteht zwar auch noch, doch immer mehr HörerInnen können und wollen ihre eigene Musikauswahl kuratieren oder zumindest in der Playlist weiterklicken können. Aber nicht nur das Hörerlebnis verändert sich durch Streaming, sondern auch wie Musik kreiert wird – ein Phänomen, mit dem sich bereits verschiedene Instanzen der Musikindustrie beschäftigen. Aktuelle Songs verlieren an Länge und der Refrain wird vermehrt direkt an den Anfang gesetzt, wie zum Beispiel in Panic! At the Discos „High Hopes“. Paul Trueman, General Manager des Labels und der Vertriebsgesellschaft AWAL, bestätigte außerdem, dass auch Intros von Songs deutlich kürzer werden. Die führende britische Musikverwertungsgesellschaft PRS for Music nahm 2019 Stellung zu einer Studie des Musikunternehmens Ostereo, aus welcher hervorgeht, dass Tracks im Allgemeinen durchschnittlich 1:13 Minute kürzer sind als noch vor 20 Jahren. Die Studie begründete dies damit, dass einerseits die Aufmerksamkeitsspanne der KonsumentInnen schrumpfe und andererseits die Algorithmen der Streaming-Dienste kürzere Lieder favorisieren würden. Ostereos Daten legten außerdem offen, dass KonsumentInnen immer seltener Tracks zu Ende hören würden, was der Algorithmus so interpretiere, dass an einem solchen Song nur wenig Gefallen gefunden wird. Je länger ein Track ist, desto weniger wahrscheinlich wird er zu Ende gehört und vermindert somit die Chance, ein gutes Streaming-Rating zu erhalten. Dadurch wird der Song weniger wahrscheinlich anderen KonsumentInnen empfohlen, was wiederum in dem Trend resultiert, dass längere Tracks heute seltener zu Hits werden.

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