DIFFUS

Brockhampton und Ameer Vann – Die Geschichte einer Trennung

Posted in: Features

Brockhampton sind ein Novum im Hip Hop – eigentlich in der Musik allgemein. Die Gruppe aus Texas macht sich drauf und dran, sich als „Beste Boyband seit One Direction“ zu etablieren und dabei neu zu definieren, was eine Boyband überhaupt ist. Kennengelernt haben sich die meisten Mitglieder über ein Kanye-West-Fanforum, ein gemeinsamer Nenner, der schließlich zur Gründung rund um Rapper, Sänger und Produzent Kevin Abstract führte. Brockhampton zählte vorerst 14 Mitlieder, wobei auch Designer, Manager, Produzenten und Regisseure zum Kollektiv gezählt wurden. Stimmlich zu hören sind auf den ersten drei Alben, der Saturation-Trilogie, sieben davon. Ein Fan-Favorit und nicht zuletzt Motiv für alle drei Cover ist Ameer Vann. Mit seinem hungrigen Straßen-Rap bereicherte er Brockhampton um einen spannenden Kontrast zu den melodischen Hooks andere Mitglieder. Bestes Beispiel für Ameer Vanns rohe Energie: Der Solo-Track „Teeth“ auf Saturation II.

Brockhampton – Teeth

Hier wäre eigentlich etwas eingebettet. Du hast aber Embed und Tracking deaktiviert. Jetzt aktivieren.

Das nächste Album nach der Saturation-Trilogie, bekannt unter dem Arbeitsnamen „Team Effort“ war berets in der Mache – dann kam allerdings eine große Kontroverse, die die Band erschütterte und die Fanbase in verschiedene Lager zeriss: Gegen Ameer Vann wurden von verschiedenen Frauen Vorwürfe erhoben: Die Rede war von emotionaler, verbaler und sogar sexueller Gewalt gegenüber Ex-Partnerinnen sowie Nötigung einer Minderjährigen. Letzteres sowie den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs stritt Ameer ab, gestand aber trotzdem zum Teil sein Fehlverhalten ein. Das genaue Ausmaß seines Handelns bleibt bis heute unklar, trotzdem sind vergangene Zeilen, die bisher als bloßer Image-Rap gesehen werden konnte, nun zu hinterfragen: „If she’s sucking on the barrell, you can’t hear her scream“. Die weitere Diskussion verlief intern in der Gruppe, die nächste Entwicklung, die die Öffentlichkeit erreichte war ein radikal ehrliches Statement:

Ameer Vann war nun also offiziell aus Brockhampton ausgeschlossen. Genaueres sollte sich erst später offenbaren, trotzdem sei schon hier gesagt: Brockhampton hat sich schon immer als eine Art sicherer Hafen gesehen, der Minderheiten mit offenen Armen willkommen heißt – schließlich kommen die Mitglieder der Gruppe aus allen möglichen sozialen und ethnischen Hintergründen und Frontmann Kevin Abstract macht immer wieder seine Homosexualität offen zum Thema seiner Texte. Ein Kontext, in dem Gewalt gegenüber Schwächeren keinen Platz findet, weshalb Ameers Ausschluss von einem Großteil der Fanbase, speziell aus der LGBTQ+-Community, positiv aufgenommen wurde. Trotzdem traf diese Entscheidung auch auf Unverständnis bei einigen Fans, schließlich war man in die genauen Vorgänge und den Umfang von Ameers Taten nur vage eingeweiht. Brockhampton und die Hörerschaft waren also zutiefst zerüttet. Die bisherigen Songs des kommenden Albums wurden verworfen, die aktuell laufende Tour abgesagt und die Band machte einen Urlaub auf Hawaii, um weitere Schritte zu erschließen. Die Folge davon: Album Nummer Vier, „Iridescence“. Das Album wurde laut eigener Aussage maßgeblich von der Europa-Tour der Gruppe inspiriert und präsentierte eine gemischte Tracklist, voll mit bass-lastigen Bangern und melancholischen, ruhigen Stücken. Brockhampton gab sich experimenteller als je zuvor, aber Ameer Vans kräftige Stimme fehlte hörbar. Trotzdem kamen die Geschehnisse mit dem Ex-Mitglied textlich kaum zur Sprache, es schien als wolle die Gruppe die Trennung wie einen bösen Traum vergessen. Im Frühjar 2019 veröffentlichte Kevin Abstract dann sein erstes Solo-Projekt seit drei Jahren – „Arizona Baby“. Darauf zu finden ist der introspektive Song „Corpus Christi“, auf dem Kevin auf einem warmen Gitarren-Instrumental seine Gedankenwelt offenbart, mehr spricht als rappt. Er reflektiert über die verschiedensten Themen, gibt zu, wie schwer die Gruppe und vor allem er selbst mit Ameers Verlust hadert. Schließlich war Kevin schon Jahre vor Brockhamptons Gründung eng mit Ameer Vann befreundet, dessen Vision beeinflusste das heutige Bild der Gruppe maßgeblich. Kevins Reflektion mündet in folgender Zeile: „I wonder if Ameer think about me, or what he think about me“.

Kevin Abstract – Corpus Christi

Hier wäre eigentlich etwas eingebettet. Du hast aber Embed und Tracking deaktiviert. Jetzt aktivieren.

Die Verarbeitung der Trennung, die auf „Iridescence“ so auffällig fehlt, wurde schließlich auf dem neuesten Brockhampton-Album, „Ginger“, dieses Jahr nachgeholt. „Ginger“ nimmt die Zerissenheit der Gruppe offen an und thematisiert sie, statt sie totzuschweigen. Herzstück der zwölf Tracks ist das grandiose „Dearly Departed“. Über einem dramatischen, instrumentalen Beat liefern die Mitglieder mehr gesprochene Tagebucheinträge als konventionelle Rap-Parts. Die Themen sind vielfältig: Verstorbene Freunde und Familienmitglieder, mediale Wahrnehmung und nicht zuletzt neue Einblicke in die Situation rund um Ameer Vann. Während Kevin vor allem die zerrissene Freundschaft betrauert, hat Rapper Dom McLennon bestürzende Enthüllungen parat. Wenn man seinen Zeilen Glauben schenkt, war Ameer an einem Überfall auf einen Freund von Dom beteiligt – eine traumatisierende Tat, die er Dom erst nach seinem Weggang von Brockhampton gestanden hat. Dementsprechend wütend und emotional rappt Dom McLennon seinen Part, der darin mündet, dass er das Mikrofon umstürzt – laut Produzent Romil Hemnani ist das nicht nachträglich eingefügt, sondern genau so im Studio passiert.

Brockhampton – Dearly Departed

Hier wäre eigentlich etwas eingebettet. Du hast aber Embed und Tracking deaktiviert. Jetzt aktivieren.

Aber was wurde eigentlich aus Ameer, mit dem sich die Mitglieder von Brockhampton immernoch so sehr beschäftigen? Nach der Trennung wurde es vorerst still um den Rapper – bis er im September überraschend neue Musik ankündigte und eine EP namens „Emmanuel“ veröffentlichte. Auf den neuen Songs, ganz speziell „Los Angeles“ wird klar, dass er die Dinge gänzlich anders sieht als seine ehemaligen Freunde. Ameer ist verbittert, seine Depression, sein zerrütteter Familienhintergrund und seine eigene kriminelle Vergangenheit verfolgen ihn. Statt wirkliche Reflektion zu zeigen, sieht er sich in erster Line als Produkt seiner Umwelt, ganz nach dem Motto: Mit einer Akte wie der seinigen, habe man nicht wirklich eine Wahl. In seiner Welt sind die übrigen Brockhampton-Mitglieder geldgierig und nur darauf aus, mit seinem Namen weiterhin Profit zu machen.

Ameer Vann – Los Angeles

Hier wäre eigentlich etwas eingebettet. Du hast aber Embed und Tracking deaktiviert. Jetzt aktivieren.

Das ist vorerst das Ende der musikalischen Verarbeitung einer tragischen Trennung. Ameer ist geplagt von Paranoia und Depression, stilisiert sich wie ein Super-Bösewicht. Die Jungs von Brockhampton sind immernoch geschwächt von der Lücke, die jetzt in der Band klafft, trotzdem scheinen sie ihren Teil vorerst gesagt zu haben. Vielleicht kommt ja noch eine Antwort auf Ameers Vorwürfe, vielleicht ist in einigen Jahren auch alles geklärt und man kann beide Parteien wieder gemeinsam auf einem Song hören. Sollten sich all die Anschuldigungen gegenüber Ameer jedoch endgültig bewahrheiten, ist diese Option natürlich ausgeschlossen. Ein Mitglied aus dem Kollektiv zu werfen, scheint ein radikaler Schritt zu sein – bei Ameers mutmaßlichen Taten und Brockhamptons Grundprinzipien allerdings nur konsequent. Die Trennung von Ameer Vann ist wohl das Schlimmste, was Brockhampton passieren konnte. Aber wie bei vielen anderen Künstlern ist es auch dieser Verlust und der Schmerz, der mit „Ginger“ das bisher wohl reflektierteste und vielleicht auch beste Album der Gruppe möglich gemacht hat.

Das zweite DIFFUS Print-Magazin

jetzt bestellen

Große Titelstory: Brutalismus 3000. Außerdem: Interviews mit Paula Hartmann, Trettmann, Lena, Berq, Team Scheisse und vielen mehr.