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Können wir uns auf Konzerten nicht mehr benehmen? 

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Drängeleien, lautes Gebrüll und Superfans, die bereits Nächte vor dem Konzertbeginn vor der Halle verbringen, gab es schon immer. Je nach Genre gab es dabei natürlich Unterschiede: Metalheads finden sich vermutlich öfter in wirbelnden Circle Pits wieder als Pop-Fans. Bei Rockkonzerten schwimmen Crowdsurfer über der Menge hinweg, während Hip-Hop-Liebhaber:innen ihre Moshpits vermutlich genauso lieben wie den 180 bpm Song, der dazu durch die Boxen dröhnt. Bei der Stadium-Tour von Ed Sheeran werden mehr Fans vor dem Einlass warten als bei der kleinen Clubshow eines Newcomers. 

Dass man je nach Konzert eine gewisse Stimmung erwarten muss und erhöhte Euphorie dazu gehört, ist klar. Was jedoch die meisten Konzerte für Fans gleichermaßen sind oder zumindest sein sollten: Ein Safe-Space und Ort, an dem sie unbeschwert sein können. Doch das scheint in den vergangenen Monaten einen Turn bekommen zu haben. Gerade in den Zeiten nach der Covid-19-Pandemie, seitdem die Konzertvenues ihre Tore wieder öffnen durften, scheinen ein paar Dinge extremer geworden zu sein. Immer häufiger wird von Vorfällen berichtet, bei denen die Grenze zwischen Fan-Euphorie und Fahrlässigkeit überschritten wird. Fans scheinen mit allem Mittel auf sich aufmerksam machen zu wollen, selbst bei ruhigen Songs Mosphits loszutreten und die vorher herrschende Etikette von Liveshows nicht mehr zu kennen. 

Einige Vorfälle der vergangenen Wochen

In den letzten Wochen häuften sich die Ereignisse, bei denen das Verhalten von Konzertbesucher:innen entweder Auswirkungen auf die Artists oder die gesamte Veranstaltung mit sich zog. Zunächst wurde Künstlerin Bebe Rexha bei ihrer Show in New York von einem Handy im Gesicht getroffen, sodass sie im Anschluss mit drei Stichen genäht werden musste. Hier handelte es sich scheinbar um einen TikTok-Trend, den ein Fan nachstellen, beziehungsweise mitmachen wollte. Auch Harry Styles bekam vor kurzem bei seinem Wien-Auftritt einen von einem Fan geworfenen Gegenstand ins Auge. Weniger gefährlich aber mindestens genauso irritierend ging es bei Pink weiter: Bei einer Show ihrer „Summer Carnival Tour“ in London warf ein Besucher die Asche seiner verstorbenen Mutter auf die Bühne, was verständlicherweise eine sehr verstörte Pink hinterließ. 

@dailymail “I don’t know how I feel about this” 🤯 #fyp #pink #hydepark #shocking #momsashes ♬ original sound – Daily Mail

Doch nicht nur auf einzelnen Konzerten sind solche Vorfälle zu beobachten. Ähnliche Entwicklungen konnten auch in den letzten Wochen bei Festivals gesehen werden. Bei der ersten Ausgabe des Rolling Loud Festivals in München wurde von einem „bemerkenswert aggressiven“ Publikum berichtet. Laut Angaben der Polizei gab es bereits zum Einlasszeitpunkt gewaltsames Gedränge, das unübersichtliches Chaos auslöste und aus dem einige Verletzte hervorgingen. Mehrere Festivalbesucher:innen sprangen über Barrikaden und bewarfen Sicherheitspersonal mit Steinen, sodass das dieses nicht mehr gegen den großen Andrang vorgehen konnte. Der bevorstehende Auftritt von Ufo361 wurde darauf aus Sicherheitsgründen und auf Drängen der Polizei abgesagt und die Veranstaltenden dachten sogar kurz darüber nach, das Festival komplett zu unterbrechen.

@abiturbayern Rolling Loud komplett eskaliert #rollingloud ♬ OUT WEST (feat. Young Thug) – JACKBOYS & Travis Scott

Ist das Publikum respektlos geworden? 

Entwicklungen im Publikum, die einerseits erschreckend sind, andererseits auch deutlich zum Nachdenken anregen. Hat sich das Livepublikum einfach von Grund auf verändert? Denn nicht nur Einzelfälle von irritierendem Verhalten sind seit rund einem Jahr bemerkbar, in dem die Live-Branche wieder zum Leben erwachte. Der allgemeine Ton bei Konzerten und Festivals scheint sich geändert zu haben. Immer wieder fällt auf, wie sich während der Opening-Slots von Support-Bands lautstark unterhalten wird. Dabei ist natürlich nichts gegen einen kurzen Austausch über die Performance der Artists einzuwenden – aber wenn eine Person ihre Kunst auf der Bühne präsentiert, dann könnte ihr doch zumindest für die knappen 30 Minuten zugehört werden. 

Und auch beim Main Act kann gerne länger geblieben und zugehört werden als nur bis zum viralen Song, der durch die Charts schoss. Dass gefühlt die Hälfte des Publikums bei Auftritten von Nina Chuba nach „Wilberry Lillet“ wieder die Heimreise antritt ist genauso verwirrend wie zwischen ruhige Balladen zu brüllen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Ein weiteres Phänomen, das gerade bei TikTok mal ernshaft mal ironisch diskutiert wird: Vor allem bei Hip-Hop Festivals oder Konzerten wird bei so gut wie jeder Gelegenheit ein Moshpit gestartet. Und zwar nicht nur wenn Ski Aggu sein Party-Set spielt, sondern auch wenn Metro Boomin „Creepin’“ anstimmt – plötzlich geht ein Kreis auf. Scheint, als hätte das Publikum auch verlernt, wann es angemessen ist, die Sau raus zu lassen und wann wirklich einfach mal in Ruhe zugehört und mitgesungen werden kann.

@malcolmkelechi_ Trz war rolling loud crazy 🫶🏽 #rollingloud #rollingloudgermany ♬ Originalton – Malcolm Kelechi

Der Post-Pandemie-Effekt

Woher diese Verhaltensentwicklung kommt, kann natürlich nur gemutmaßt werden. Viele sprechen von einem Post-Pandemie-Effekt, der Anlass zu diesen Veränderungen des Livepublikums gibt. Über Jahre hinweg konnten Fans ihre Lieblingskünslter:innen nur durch Screens sehen, was sie scheinbar mehr zu Pixel-Wesen machte als zu realen Menschen. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, möchte jetzt jede:r so nahe wie möglich an den Künstler:innen dran sein. 

Dazu kommt auch noch eine Art „Main-Character-Syndrom“, das ein Effekt von viralen TikTok-Videos sein könnte. Jede:r Fan scheint auf den ganz persönlichen „Harry Styles Moment“ zu warten, in dem der oder die Artist den Fan erkennt und anspricht. Und wie macht man in einer Menschenmenge aus Tausenden auf sich aufmerksam? Möglichst nahe dran sein und mit mitgebrachten Gegenständen zu werfen, scheint die Strategie vieler zu sein. Fans möchten, dass die Künstler:innen auf die geworfenen Dinge, das Geschrei während ruhiger Songs oder vielleicht zumindest auf das nachher hochgeladene Video auf TikTok reagieren. In 99 Prozent der Fälle jedoch vergeblich. 

@bibisanders The signs did not dissapoint. Whoever this Lauren was, u were amazing #hslot #hslotwerchter #harrystyles ♬ original sound – Bibi Sanders♡

Warum sollten wir es anders machen?

Ohne in einen „früher-war-alles-besser“-Rant zu verfallen: Es gibt natürlich nicht das eine richtige Verhalten auf Konzerten und vielleicht waren viele extreme Momente damals einfach nicht so präsent in der Berichterstattung. Shows sind für jede:n eine individuelle Erfahrung, die auch auf die eigene Art genossen werden kann und soll. Aber die aktuellen Vorfälle gehen in eine Richtung, die durchaus gefährlich werden kann, oder es bereits ist. Wenn Besucher:innen in der Crowd oder Artists auf der Bühne verletzt werden, muss über diese Verhalten nachgedacht werden. 

Zudem hat dieses Phänomen auch mit der gewaltigen Blase der Internetkultur zu tun. Erlebnisse, die nicht mit der Handykamera festgehalten werden, um sie später posten zu können, fühlen sich nicht mehr wertvoll an. Das fängt damit an, dass komplette Konzertabende mitgefilmt werden, bis zu Smartphones, die mit der Hoffnung auf eine Reaktion der Artists auf der Bühne landen. 

Konzerte und Festivals sind ein Ort, an dem sich das Fan-Herz geborgen fühlen sollte. Mit den aktuellen Entwicklungen kommt die Sorge auf, dass dieser Safe-Space bedroht, gefährdet oder durch permanentes Gerede und Gefilme unerträglich wird. Gegen Moshpits oder Crowdsurfing für den Adrenalin-Boost ist absolut nichts einzuwenden, gegen die Gefährdung der allgemeinen Sicherheit jedoch allemal. Ein aggressives Verhalten gegenüber anderen Konzertbesucher:innen, Sicherheitskräften und Artists sollte von den einzelnen Personen reflektiert werden. Und vielleicht kann das nächste Mal auch bei Konzerten bis zum Ende geblieben und zugehört werden. Das sind wir diesen Artists doch mindestens schuldig.

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