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Lilly Blaudszun trifft Kettcar: Indie, Politik und Helgoland

Posted in: Titelstory

Halunder Jet. Oberdeck. Irgendwo zwischen Cuxhaven und dem Reiseziel Helgoland. Die ziemlich malerische Fahrt, für die man tatsächlich wie im Kettcar-Song an den „Landungsbrücken raus“ losfahren muss, wird um einiges wirscher. Jetzt lernen Kettcar und ihre mitreisenden Fans und Freund:innen, warum es „Hochseeinsel Helgoland“ heißt. Der Hochgeschwindigkeits-Katamaran springt ein wenig über die Wellen, zumindest fühlt es sich so an, wenn man an Bord steht. Und sitzen will gerade niemand. Der Grund: Thees Uhlmann, Mitbesitzer des Labels Grand Hotel van Cleef und langjähriger Freund der Band Kettcar, gibt gerade sozusagen das Vorprogramm. Direkt neben der kleinen Bordtheke, an der es trotz der frühen Stunde schon in recht hoher Schlagzahl flenst, spielt er ein Akustik-Set. Thees freue sich sehr, das Warm-up für seine „Lieblingsband“ Kettcar zu geben. Die veröffentlichen exakt am Tag dieser Reise ihr sechstes Studioalbum „Gute Laune ungerecht verteilt“.

Zur Feier des Tages organisierten sie diese Fahrt nach Helgoland mit ein paar Hundert Wegefährtinnen und Fans. Kettcar selbst werden später in der Nordseehalle auf Helgoland auftreten. Thees ist bei seinem gut halbstündigen Gig wieder der King of accidentally funny Bühnenansagen, spielt Lieder wie „Ein Satellit sendet leise“ und „Fünf Jahre nicht gesungen“, aber auch zwei sehr passende Coverversionen. „Reisefieber“ von Die Toten Hosen, mit der passenden Zeile: „Die Nordsee schlägt dir ins Gesicht / Trotzdem hast du verloren.“ Und der Endgegner einer jeden An-Bord-Performance: „My Heart Will Go On“ von Celine Dion – der „Titanic“-Titelsong. Beim Chorus spürt man die Wellen noch ein wenig intensiver, und unser Kameremann stellt fest, dass die Sache noch ein wenig unangenehmer wird, wenn man bei hohem Wellengang durch ein Objektiv schauen muss. Die von Kettcar und der Schifffahrtsgesellschaft bereit gelegten Kotztüten werden jedoch nicht gebraucht …

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Lilly Blaudszun kommt an Bord

Aber halt: „Löschen und spul zurück“, wie es ebenfalls im Song „Landungsbrücken raus“ heißt. Wir sind immer noch an Bord des Halunder Jet, aber ein paar Wochen vor der Kettcar-Fahrt. Das Schiff liegt an diesem sonnigen und sehr warmen Februarmorgen an den Landungsbrücken und wird fit gemacht für die neue Reise-Saison. Auf dem Heck des Bootes treffen Sänger, Gitarrist und Songschreiber Marcus Wiebusch und Bassist Reimer Bustorrf, der ebenfalls Songs und Texte schreibt, auf Lilly Blaudszun. Sie ist im Jahr der Kettcar-Gründung geboren, 2001, und wurde in den letzten Jahren vor allem als Politik-Influencerin und ein paar Jahre lang auch als für die SPD aktiven Politikerin bekannt. Ähnlich wie die prominenten Figuren der „Fridays For Future“-Bewegung schafft sie es, zum Beispiel via Instagram ihre jungen Follower:innen für politische Themen zu begeistern. Musikfan ist sie außerdem – deshalb war sie für uns die perfekte Wahl für diese Titelstory. Wir wollten sehen, ob die sehr politische, aber auch sehr emotionale Musik der Indie-Instanz Kettcar auch ihrer Generation noch etwas zu sagen hat. Wer hin und wieder auf Kettcar-Konzerten ist, weiß schon, dass dem so sein muss: Hier sieht man nämlich mitnichten nur Ü-40-Indie-Menschen.

Politische Songs müssen verstanden werden

So viel sei schon einmal verraten: Die Rechnung ging auf. Lilly ist im Gespräch neugierig und an den richtigen Stellen auch mal hartnäckig bohrend. Die drei sprechen dabei natürlich oft über das Grenzgebiet zwischen Popmusik und Politik, das Kettcar mit Liedern wie „Sommer `89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ oder den aktuellen „Doug & Florence“ und „München“ eindrucksvoll vermessen haben. Marcus Wiebusch, der für das Gros der Texte zuständig ist, erklärt dazu: „Wenn man zum Beispiel so einen politischen Text nimmt: Politik bedeutet ja so ganz allgemein gesagt: Forderungen stellen, damit das Leben der Menschen besser wird. Wenn du einen politischen Song machst und der wird nicht verstanden, bist du ja schon von Sekunde eins an gescheitert. Das ist schlecht. Du musst also die Wörter und Sätze finden, die einerseits nicht ganz stumpf und platt daherkommen, andererseits aber auch ein Gefühl heraufbeschwören, bei denen, die das hören.“ Obwohl er seit Jahren solche Lieder schreibe, komme er dabei noch immer manchmal an seine Grenzen, gibt er zu. „‘Kanye in Bayreuth‘ von der neuen Platte, ist so ein Lied. Darum geht es um die Frage, ob und wie man das Werk vom Künstler trennen kann. Da kommen wir aufgrund der Komplexität des Themas komplett an unsere Grenzen. Als Raimer und ich im Studio darüber geredet haben, dachten wir echt: ‚Genau hier liegen die Grenzen des Popsongs.‘“ Marcus verstehe Lillys Aussage, Kettcar seien verständlich, deshalb auch als großes Kompliment.

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In der Nordseehalle auf Helgoland

Zurück in die Zukunft (keine Kettcar-Line, die ist aus … ihr wisst schon): zum Release-Tag von „Gute Laune ungerecht verteilt“. Nachdem sich die Reisegruppe Kettcar ein paar Stunden auf die Kneipen und verregneten Wanderwege Helgolands verteilt hat, ist die Nordseehalle gut gefüllt. Hier beginnt um halb fünf das offizielle Release-Konzert. Kettcar eröffnen das Set mit dem Album-Opener „Auch für mich 6. Stunde“. Der ist treibend, politisch, auf verzweifelte weise selbstironisch. Classic-Kettcar mit einem schicken Post-Punk-Twist. Und Lines wie diesen: „Interview, Promotage, Kommentier’n der ganzen Lage / Wichtig, dass man sich verhält, wichtig, dass man Haltung zeigt / ‚Unser politischstes Album seit—‘ / Oh bitte, ich bin ganz kurz eingeschlafen.“ Nach dem Song stellt Marcus klar, dass man hier nicht stumpf das komplette neue Album runterspulen wird, obwohl er zum Beispiel an Neil Young liebe, dass der das immer genau so mache. Stattdessen gibt es ein gutes Warm-up für die kommende Tour: Fan-Favoriten wie „Balkon gegenüber“, „Benzin und Kartoffelchips“, „Deiche“ und „Money Left To Burn“. Liebeslieder wie „Balu“ und „Rettung“. Bei der Performance von „Doug & Florence“ muss man automatisch an Marcus Worte über verständliche, politische Lieder denken. Hier singen fast alle diese verdammt pointierten Zeilen: „Du wüsstest auch gern, wie das ist / Einmal frei zu sein / Dann könntest du dir durchaus vorstell’n / Mal liberal zu sein / Es ist so merkwürdig verteilt / Das sieht jeder, der gut hinsieht.“ Klingt nicht so, als würden all die Menschen das nicht fühlen.

Fast zwei Stunden lang erlebt man eine Band, die sich heute mit genau dem Publikum umgeben hat, das ein solcher Tag verdient. Seit über zwanzig Jahren sind Kettcar beständig gut und aussagefreudig geblieben – und haben sich den Erfolg dabei mit viel Arbeit und DIY-Spirit selbst aufgebaut. Dass ihr sechstes Album so frisch und relevant klingt und sie es mit eigenen Labelstrukturen in die Welt bringen können, ist schließlich keine Selbstverständlichkeit. Dementsprechend feierlich, aber bodenständig ist der Vibe dieses Tages. Als man später bei wieder einmal sportlichem Wellengang zurück nach Hamburg fährt, mischen sich Fans und Band und Weggefährt:innen, trinken gemeinsam die Biervorräte des Halunder Jets leer oder stehen auch mal melancholisch am Heck des Bootes, um die Lichter der Villen am Elbufer anzuschauen. Um 22.45 heißt es dann – ein letztes Mal, versprochen – an den „Landungsbrücken raus“.

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